“Über-Reste” – Die Aktion der Projektgruppe 2019 zu den Tagen der Begegnung
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Seit Anfang Februar diesen Jahres kamen 12 Jugendliche einmal wöchentlich in der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge zu einer Aktionsgruppe zusammen, um das von der Gruppe der 2. Generation gewählte Thema „Über-Reste“ inhaltlich und gestalterisch zu bearbeiten und zu einer Aktion zu verdichten. Dies waren Lea Drechsler, Adriana Martins und Maximilian Melz, der schon an früheren Projekten in der Gedenkstätte mitgearbeitet hat. Sie alle lernen an der Gemeinschaftsschule Hagenberg in Gernrode. Von den Berufsbildenden Schulen „Geschwister Scholl“ Halberstadt beteiligten sich Jerome-Pascal Havlicek, Maik Schneider, Mark Schulz, Niclas-Jan Seidler und Gina Kaufmann, die sich dort auf eine Ausbildung vorbereiten, sowie die Fachoberschülerinnen Chantal Kreißig und Lee-Ann Kaiser. Auch die ehemaligen Schülerinnen dieser Schule Esther Feisthauer und Christina Meier nahmen zum wiederholten Mal an einer Gedenkaktion teil.Sie alle befassten sich zunächst mit der Geschichte des Lagers und den Schicksalen von Opfern und Überlebenden, erkundeten später das ehemalige Lagergelände und suchten nach Spuren der Vergangenheit. Sie stießen auf Überreste des Küchengebäudes und der Sanitätsbaracken, der Latrinen und Waschgelegenheiten, fanden Grundflächenreste von Häftlingsbaracken, eine vor kurzem konservierte Kiefer und ein Stollensystem – ja, es gibt sie noch im Original, die baulichen Überreste aus der Lagerzeit, und sie werfen Fragen auf: „Wofür war diese Rampe?“ „Wer ging diese Treppen hinauf?“ „Was war im Keller?“ „Wo ist der Rest des kaputten Tontopfes?“ „Wofür waren diese Becken?“ – alles Fragen, die später zum Bestandteil der Aktion wurden.
Aber die baulichen Überreste des Lagers weisen inzwischen deutliche Spuren von Verfall auf und müssten schnellstens gesichert und konserviert werden, um sie als Zeugnisse dieses Kapitels der deutschen Geschichte auch für künftige Generationen zu bewahren.
Das ehemalige Lagergelände ist in den letzten mehr als 74 Jahren immer wieder überbaut, entsprechend der spezifischen Erinnerungskultur der jeweiligen Zeit neu gestaltet oder durch Sicherungsmaßnahmen verändert worden. Auch mit dieser „Schicht“, die heute auf den Überresten lagert, beschäftigten sich die Jugendlichen und setzten sich intensiv mit den 2010 umgestalteten Massengräbern und den 761 Namenstafeln für die dort verscharrten Opfer sowie zwei Kunstwerken, die den durch Arbeit vernichteten oder auf dem Todesmarsch umgekommenen Häftlingen gewidmet sind, auseinander.
Eine ganz spezielle Führung durch den Gedenkstättenleiter Dr. Nicolas Bertrand vermittelte den Projektteilnehmern anhand historischer Fotos und neuester Ergebnisse geoelektrischer und Laserscanuntersuchungen eine Vorstellung davon, wie das Gelände und die Gebäude damals aussahen und die Erkenntnis, dass es auch bauliche Überreste gibt, die inzwischen vollständig von der Natur überwuchert sind.
Die künstlerisch-dramaturgische Leitung des Projektes hatte Anna-Maria Schwindack übernommen. Dass sie zum Auftakt jedes Treffens spielerische Übungen zur Teambildung, zur Verbesserung der Aussprache oder zur Schulung der Körpersprache durchführte, gefiel den Jugendlichen besonders gut und sensibilisierte sie für die nachfolgende Auseinandersetzung mit Texten von Überlebenden, die sich speziell auf Aussagen zu den Lagerbauten bezogen. Logistisch und organisatorisch wurde das Projekt auch von Ulrich Kallenberger unterstützt, Sozialpädagoge an der BbS Halberstadt.
Anna-Maria Schwindack (künstlerisch-dramaturgische Leitung) und Jennifer Fulton (musikalische Leitung)
Spiele zum Kennenlernen, zur Teambildung und zur Schulung von Körperhaltung und Aussprache brachten viel Spaß.
Die Musikpädagogin Jennifer Fulton unterstützte die jungen Leute dabei, ihre Gedanken und Gefühle auch durch Klänge auszudrücken und mit diesen Klängen die Aktion zu untermalen. Die Aktion selbst fand vor der ehemaligen Küchenbaracke statt. Zunächst näherten sich die Jugendlichen den Überresten der Küchenbaracke im Gleichschritt von zwei Seiten, erzeugten dabei mit verschiedenen Klanginstrumenten Töne und wurden von einem Trommeltakt begleitet. Schrille, zum Bau eines Gebäudes gehörende Geräusche, die entstehen wenn unterschiedliche Materialien wie Glas auf Stein oder Stein auf Holz treffen, waren ebenso Teil dieses Klangbildes wie das Klappern von Nägeln in einem Behältnis, Hammerschläge auf Metall und das Ratschen einer Säge auf Eisen.
Besucher und Gäste der Gedenkaktion finden sich vor der Küchenbaracke ein, wo die Aktion stattfindet. Die Aktion beginnt mit den Klängen.
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Als sie die ehemalige Küchenbaracke erreicht hatten, wandten sich die Jugendlichen dieser zu und schauten nun, wie alle anderen Gäste der Veranstaltung, auf deren noch vorhandene Überreste. Anschließend verklangen, einer nach dem anderen, die Töne.
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Mit Blick auf die „Über-Reste“ zitierte Lea aus dem Buch „Rückkehr nach Langenstein“ des französischen Überlebenden Georges Petit, der beschreibt, was ihn 1994 bei dieser Rückkehr bewegte:
„Der einsame Spaziergang dauerte sehr lange. Wie ein enttäuschter Tourist fand ich nicht das Lager wieder, welches ich so gut gekannt hatte. Ich entdeckte nur noch die Kulissen weit entfernter Ereignisse aus meiner Vergangenheit, und diese Kulissen hatten eine merkwürdige Wirkung: ich fühlte, wie mich eine plötzliche Nostalgie erfasste [...]. Nun verstand ich auch die Kameraden, deren Berichte über die Häftlingszeit mich bisher geärgert hatten. Denn man kann kaum vermeiden, alles größer darzustellen, wenn man mit Nostalgie an eine Zeit zurück denkt, von der man vorher immer nur behauptet hat, dass es eine Zeit des Unglücks war.“
Pantomimisch ertasteten die jungen Leute nun die nicht mehr vorhandenen Außenmauern. Allein die Vorstellungskraft ließ das Küchengebäude mit seinen verschwundenen Mauern wieder erstehen. Disharmonische Töne und Klänge, die an Baulärm erinnerten und von Christina und Maik durch das Schlagen von Glas auf Stein erzeugt wurden, begleiteten die Gebärden.
Dann machten sich die Akteure auf die „Suche“ nach einzelnen Elementen, von denen es heute kaum noch Spuren gibt. Aber die jungen Leute hatten historische Fotos davon gesehen, hatten diese Bilder im Kopf und beschrieben mit knappen Worten, was damals dort vorhanden gewesen sein musste:
Max: Ein langer Zaun.
Lea: Ein Bahngleis.
Esther: Ein großer Platz.
Jerome-Pascal: Ein Berg im Hintergrund.
Chantal: Eine Erhöhung, auf der das lange Gebäude steht.
Mark: Sieben Fenster.
Niclas-Jan: Eine Tür mit zwei Stufen.
Chantal: Fünf Schornsteine.
Jerome-Pascal: Rechts, eine kleine Tür.
Chantal: Eine Rampe.
Adriana: Ein flaches Dach.
Und es wurden Fragen gestellt, die, wenn überhaupt, nur noch durch Erinnerungsberichte von Überlebenden beantwortet werden können:
Max: Was bedeuten die Metallplatten im Boden?
Lea: Wofür waren die Becken?
Esther: Durfte in der Küche gesprochen werden?
Adriana: Scherben werfen Fragen auf. Wozu gehörten sie?
Jerome-Pascal: Wo ist der Rest des kaputten Tontopfes?
Mark: Wofür war diese Rampe?
Chantal: Was war im Keller?
Max: Seit wann steht dieser Baum hier?
Niclas-Jan: Wer ist diese Treppen hinauf gegangen?
Gina wiederholte diese Fragen für alle besser hörbar am Mikrofon und verstärkte damit die Wirkung der Leere.
Nun folgte eine Einspielung vom Band, wie eine Nachricht, die nur noch aus den schriftlichen Erinnerungen zu uns spricht. Max hatte dem polnischen Überlebenden Edmund Wojnowski seine Stimme geliehen:
„Noch 100, 200 Meter – und jetzt sehen wir den Stacheldrahtverhau, Wachtürme und Baracken. Rechts steht ein gemauertes Gebäude, vor dem sich ein paar Leute bewegen. Endlich wird man sich irgendwo hinlegen können, ausschlafen, endlich bekommt man, ganz egal was, aber dreimal täglich, wie in Sachsenhausen zu essen. Ich weiß noch nicht, dass ich hier nur 2 Monate verbringen werde. Zwei Monate, die schrecklicher für mich werden als 5 Jahre Gefängnisse und KZ Lager.“
Die Darsteller reagierten auf diese Einspielung und ließen aus diesem Grund das Erkunden des Innenraums zur Suche nach dieser Stimme werden.
Dann hörten alle im „Freaze“, d.h. in einer Bewegung erstarrt, Lea zu, die aus dem Bericht des tschechischen Lagerschreibers Josef Vik zitierte:
„Am 21. September 1944 sammelten einige Häftlinge, vom Hunger getrieben, hinter der Küche weggeworfene Kartoffelschalen auf. Vom Wachturm aus schoss ein SS-Mann auf sie, eine Kugel flog durch das Küchenfenster und traf den Russen Viktor Galkin, […] der mit weiteren 21 ebenso jungen Kameraden in der Küche beim Kartoffelschälen eingesetzt war, ins Herz.“
Die Projektteilnehmer gingen daraufhin langsam in die Hocke, verharrten in der Stellung und blickten zu Boden.
In dieser Stille und Bewegungslosigkeit rezitierte Gina das Gedicht „An euch, die das neue Haus bauen“ von Nelly Sachs.
An euch, die das neue Haus bauen
Wenn du dir deine Wände neu aufrichtest –
Deinen Herd, Schlafstatt, Tisch und Stuhl –
Hänge nicht deine Tränen um sie, die dahingegangen,
Die nicht mehr mit dir wohnen werden
An den Stein
Nicht an das Holz –
Es weint sonst in deinen Schlaf hinein,
Den kurzen, den du noch tun mußt.
Seufze nicht, wenn du dein Laken bettest,
Es mischen sich sonst deine Träume
Mit dem Schweiß der Toten.
Ach, es sind die Wände und die Geräte
Wie die Windharfen empfänglich
Und wie ein Acker, darin dein Leid wächst,
Und spüren das Staubverwandte in dir.
Baue, wenn die Stundenuhr rieselt,
Aber weine nicht die Minuten fort
Mit dem Staub zusammen,
Der das Licht verdeckt.
Anschließend lösten sich die jungen Leute aus ihrer Erstarrung und traten im Halbkreis vor das Publikum.
Einzeln formulierte jeder seine Vorstellungen und Wünsche zum weiteren Umgang mit den noch vorhandenen baulichen Überresten.
So forderte Adriana: „Wir wünschen uns, dass die baulichen Überreste erhalten und konserviert werden.“
Chantal hoffte, „dass es einen behutsamen Umgang mit ihnen gibt.“
Jerome-Pascal fand, „dass die Überreste gesichert werden sollten, damit sie nicht von Besuchern und Besucherinnen betreten oder gar zerstört werden.“
Max würde es gern sehen, „wenn es mehr archäologische Grabungen geben könnte, die Verdecktes zum Vorschein bringen.“
Christina erklärte: „Wir fänden es super, wenn die Wege zu allen baulichen Überresten auf dem Gelände besser ausgebaut wären und es auch einen barrierefreien Zugang zu ihnen gäbe.“
Gina konnte sich vorstellen, „dass es an den ehemaligen Gebäuden kleine Modelle geben könnte, Miniatur-Nachbauten, die im Kleinen zeigen, wie es damals hier ausgesehen hat.“
Maik hoffte, „dass es dafür die nötigen finanziellen Mittel geben kann.“
Und Christina verlieh erneut der Erwartung aller Jugendlichen Ausdruck, dass umgehend etwas geschehen müsse, „damit unsere Wünsche nicht nur Wünsche bleiben werden.“
Untermalt wurden diese Wünsche durch eine von allen gemeinsam gesummte und auf der Gitarre begleitete Melodie, um den gesprochenen Worten eine besondere Eindringlichkeit zu verleihen.
Zum Abschluss der Aktion lud Esther die beiden Überlebenden Georges Petit aus Frankreich und Ryszard Kosinski aus Polen sowie alle Angehörigen und Gäste zum gemeinsamen Gang zur Gedenkveranstaltung ein, die an den Massengräbern der Menschen, die das KZ Langenstein-Zwieberge nicht überlebt haben, stattfand.
Für die Aktion selbst erhielten die jugendlichen Akteure von den Gästen nach der Gedenkveranstaltung sehr viel Anerkennung und Zuspruch.
Text: Martina Lucht, Gesine Daifi
Fotos: Martina Lucht (privat)