Förderverein Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge e.V.

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Gruppe 2. Generation

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Die Gruppe der „2. Generation“

 

Im April 1998, während der Gedenktage aus Anlass der Befreiung des KZ Langenstein-Zwieberge, äußerten einige Kinder und Enkel von ehemaligen Häftlingen den Wunsch nach einem gemeinsamen Treffen, um ihrer Familiengeschichte auf den Grund zu gehen, deren Vielfalt in Erfahrung zu bringen und ihre Freude darüber zu teilen, dass sie einander verstehen.

 

Dank des Einsatzes der Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte, die die gesamte Organisation in die Hand nahmen, konnte dieser Wunsch noch im Oktober 1998 mit Leben erfüllt werden. Es kam zum ersten jener Treffen der “Gruppe der 2. Generation”, die seit dieser Zeit jedes Jahr von Neuem stattfinden und Franzosen, Italiener, Letten, Niederländer, Polen, Russen und Ukrainer zusammenbringen.

Sehr schnell zeigte sich, dass unsere elementarsten Vorhaben – selber Zeugnisse von ehemaligen Häftlingen zusammenzutragen (17 Interviews konnten aufgenommen werden) und vor allen Dingen auch die Re-Humanisierung der Opfer voranzutreiben – keinen Aufschub duldeten. Es schien uns von größter Wichtigkeit, den Toten ihre Identität zurückzugeben.

Fast zur gleichen Zeit ergab sich die Notwendigkeit, den Gedenkort an den Massengräbern neu zu konzipieren, denn die 6 Flächen sollten so gestaltet werden, dass deren Wahrnehmung als Grabstätten deutlich wird, und die Opfer sollten durch individuelle Grabtafeln namentlich BENANNT werden, d.h. die unsägliche Häftlingsnummer der “Stücke” sollte gewissermaßen aufgehoben werden, um den Menschen ihre Würde zurück zu geben.

In diesem Zusammenhang ist uns auch bewusst geworden, dass eine Gedenkstätte kein einfaches Museum ist und dass sich das Gedenken nicht darauf beschränken darf, sich vor den Toten zu verneigen, sondern dass es seine Zielstellung nur dann erreicht, wenn damit eine wirkungsvolle Gedenkarbeit verbunden ist. Und diese Gedenkarbeit muss sich in erster Linie an diejenigen richten, die die Möglichkeit haben, in Freiheit zu leben und sich mitunter nicht vorstellen können, dass “der Schoß noch fruchtbar ist…”, um mit Brecht zu sprechen.

Deshalb ist jede “unserer” Aktionen, an die diese Broschüre erinnert, in Wirklichkeit eine Aktion der jungen deutschen Sekundar-, Berufsschüler und Gymnasiasten, denen wir eine Idee vorschlagen, die diese dann mit ihren Worten, ihren Gefühlen und ihrer eigenen Weltsicht in die Tat umsetzen.

Auf den nachfolgenden Seiten werden Claudio Burelli, Freek van den Brink und Monika Rozmyslowicz Ihnen jeden der Aspekte dieser Gedenkarbeit erklären, für die wir uns freiwillig engagieren: die Fotos sprechen ihre eigene Sprache, und die Texte zeugen von Aufrichtigkeit und Leidenschaft. Sie werden darin weder das Wort “Kampf”, noch das Wort “Schlacht” finden: dies sind Worte, die nicht zu unserem Vokabular gehören.

Was die “Gruppe der 2. Generation” ausmacht, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: da treffen verschiedene und manchmal schmerzhafte Familiengeschichten auf das LEBEN; da gibt es Menschen, die sich einfach an der Seite einiger Pädagogen für eine lebenswerte Zukunft einsetzen und dafür, dass weder Ausgrenzung, die IMMER Hass nach sich zieht, noch dieser Hass selber weiterhin als „Werte” angesehen werden.

Und was könnten wir erreichen ohne die fortwährende Unterstützung durch den Förderverein der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge und die Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt? Unsere Diskussionen sind zwar mitunter sehr lebhaft, doch sie finden immer unter ehrlichen und engagierten Menschen statt, die tatsächlich wollen, dass ihre Projekte zu einem Ergebnis führen. Es sei sowohl dem Verein als auch der Stiftung an dieser Stelle unsere wirklich große Anerkennung dafür ausgesprochen.

Und darüber hinaus, was würden wir nur ohne die sagenhafte Arbeit tun, die das ganze Jahr über – und dies seit nunmehr 15 Jahren – von unseren Übersetzern geleistet wird? Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass unser “Turm zu Babel” nicht nur gebaut werden konnte, sondern auch auf festen Füßen steht. Auch ihnen sei hier sehr herzlich dafür gedankt.

Und nicht zuletzt, was werden wir künftig ohne Sie, die Leser – die sicherlich unsere grundlegenden Werte wie Achtung des Anderen, Ablehnung von Ausgrenzung und Hass sowie Wahrung der Menschenrechte teilen – und Ihre Unterstützung noch realisieren können? Lesen Sie bitte aufmerksam die nachfolgenden Seiten, mögen diese Sie an unserer Bestimmung und unserer Leidenschaft teilhaben lassen.

André Baud

Aus dem Französischen übersetzt von Gesine Daifi

André Baud ist der Sohn des französischen Überlebenden Claude Baud. Seit 1999 ist er Mitglied der Gruppe der 2. Generation und vertritt engagiert deren Anliegen in der Öffentlichkeit. Als stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge und Mitglied im Beirat der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt für die Zeit des Nationalsozialismus setzt er sich mit großer Beharrlichkeit dafür ein, Anliegen und Ziele der Gruppe der 2. Generation und des Fördervereins der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

 

 

Die Seminare und die “Tage der Begegnung”

Claudio Burelli

Aus dem Italienischen übersetzt von Andrea Pommerenke

Dr. Claudio Burelli aus Italienist der Sohn des 2008 verstorbenen Häftlings Dr. Dino Burelli. Viele Jahre lang begleitete er seinen Vater zu den jährlichen Tagen der Begegnung. Seit 2001 kommt Dr. Burelli zu den Seminaren der Gruppe der 2. Generation und übernimmt die Rolle des Seminarleiters.

Die Tage der Begegnung sind einbesonderes Beispiel dafür, wie ein Idee und ihre Realisierung seit der ersten Veranstaltung im Jahr 1991 zu einem Erfolg geworden sind. Der Name selbst steht für den Sinn der Veranstaltung: sich zu begegnen. Es geht um ein Treffen derjenigen, die als Häftlinge in das Konzentrationslager Langenstein-Zwieberge verschleppt wurden mit jenen, die eine so schreckliche Erfahrung nicht machen mussten, vor allem wenn sie später geboren wurden. Ein solches Treffen hat auch einen weiteren Sinn: gemeinsam darüber nachzudenken, wie die Wiederholung eines solchen Geschehens für die Zukunft verhindert werden kann.

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Tage der Begegnung 1998 mit Einweihung der Ausstellung am Reichsbahnstollen

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Offizielle Gedenkfeier zu den Tagen der Begegnung 2008

Die Tage der Begegnung sind also keine öffentliche Pflichtveranstaltung, in der eines Ereignisses gedacht wird, durch das ohne nachvollziehbaren Grund Tausende von Menschen großes Leid erlebten und viele von ihnen sogar ihr Leben verloren. Es geht vielmehr um eine Gelegenheit, die geschichtliche Wahrheit zu ergründen, kulturelle und politische Unterschiede zu überbrücken und sich auf die essenziellen menschlichen Werte zu besinnen.

Die Tage der Begegnung geben der offiziellen Gedenkfeier aus Anlass der Befreiung des Konzentrationslagers Langenstein-Zwieberge einen besonderen Rahmen. Über viele Jahre waren die wenigen Überlebenden des Lagers die Protagonisten der Veranstaltung, in Sinne einer aktiven Teilnahme am Treffen. Sie beschrieben ihre Vergangenheit und zogen eine konstruktive und in jeder geschichtlichen Epoche angebrachte Folgerung daraus, um sie den Anwesenden mit auf den Weg zu geben.

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Der italienische Überlebende Prof. Alberto Berti (links) zu den Tagen der Begegnung 1998

Was mich angeht, habe ich meinen Vater nicht ein einziges Mal ein Wort des Hasses sagen hören. Er hat immer betont, wie wertvoll die Erinnerung sei und wie unnütz jegliche Form von Aggressivität – und das, obwohl er einer der am längsten Inhaftierten des KZ Langenstein Zwieberge war. Gäbe es geeignetere Empfänger für diese Mitteilungen, als junge Menschen und deren Schulen? Aus diesem Grund sind sie unsere bevorzugten Gesprächs,- und Ansprechpartner und auch die am meisten Interessierten.

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Der italienische Überlebende Dr. Dino Burelli 2008 im Gespräch mit Schülern

Im gleichen Jahr, als erstmals die Tage der Begegnung stattfanden, gründeten einige der Überlebenden gemeinsam mit einer Gruppe von Ortsansässigen den Förderverein Gedenkstätte Langenstein Zweiberge e.V. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, die Gedenkstätte von außen zu unterstützen, auch in finanzieller Hinsicht. Der Verein hat sich große Verdienste erworben bei der Bewahrung der Erinnerung und der Organisation von Veranstaltungen mit Jugendlichen und anderen Interessenten, auch außerhalb der Tage der Begegnung.

In Anbetracht der Tatsache, dass die ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Langenstein-Zwieberge diese Aktivitäten unterstützten, halte ich es für folgerichtig, dass sich auch einige ihrer Kinder, Enkel oder engen Bekannten dafür engagieren. So hat sich 1998 im Kreis der Fördervereinsmitglieder eine Gruppe der 2. Generation (G2G) gebildet. Ihr gehören auch Personen an, die nicht mit ehemaligen Häftlingen verwandt sind. Die Mitglieder dieser Gruppe der 2. Generation haben also keine direkte Erfahrung mit der Deportation machen müssen, aber sie teilen den Einsatz für die Erinnerung, wie er von den Eltern, Großeltern oder Freunden vorgelebt wurde.

Über den dauerhaften Kontakt per Post und E-Mail hinaus trifft sich die G2G jeden Herbst in Langenstein, um zu diskutieren und Entscheidungen bezüglich ihrer künftigen Aktivitäten zu treffen. Dazu gehören zum Beispiel ein Interviewprojekt1 und die mittlerweile alljährlichen Aktionen zur Sensibilisierung der öffentlichen Meinung und Einbindung von Jugendlichen2. Während dieser Treffen besteht immer Gelegenheit, Vertretern aus Politik und Verwaltung zu begegnen, um sich mit ihnen auszutauschen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu besprechen.

Die Rolle und Arbeit der G2G ist zunehmend von ihrer Entwicklung gekennzeichnet. Das heißt, sie hat Momente der Chronikschreibung, der Anekdotensammlung und manchmal auch der Schuldzuweisung, wenn letztere nicht bereits von unseren Vätern abgelehnt wurde, überwinden müssen. Der wahre Zweck ihrer Arbeit besteht darin, grundsätzliche Themen wie Freiheit, Toleranz und Menschenrechte zu kontextualisieren. Man betrachtet die Vergangenheit als Beispiel und sucht in der Gegenwart nach Parallelen in Rahmenbedingungen und im menschlichen Verhalten, um eine Wiederholung der im Nationalsozialismus begangenen Taten schon im Keim zu ersticken.

Aus dieser Sicht ergeben sich fortwährend Debatten über die Organisation und Durchführung der jeweils bevorstehenden Tage der Begegnung. Wir führen sie nicht mit dem Ziel, den Jugendlichen eine negative Darstellung der Vergangenheit zu präsentieren, welche eine Reaktion der Abwehr und Ablehnung herbeiführen könnte, sondern stattdessen aus den tragischen Ereignissen der Vergangenheit trotzdem noch eine positive Nachricht der Verständigung und des Miteinander zu übermitteln.

In diesem Sinne besteht eine der Hoffnungen für die Zukunft darin, nicht bloß junge Deutsche zu erreichen, an die sich die G2G derzeit hauptsächlich wendet. Einbezogen werden sollten künftig auch Jugendliche aus den entsprechenden anderen Ländern. Das bedeutete eine neue Entwicklung, die von einigen Mitgliedern der Gruppe bereits in ihren Ländern vorangetrieben wird.

Mit ihren jährlichen Treffen im Herbst sucht die G2G neue und der heutigen Zeit entsprechende Wege, um die Erinnerung an folgende Generationen zu übermitteln. Die Beschreibung der geschichtlichen Ereignisse soll nicht wie eine Horrorgeschichte wirken, die weit zurück liegt und mit der heutigen Welt nicht mehr viel zu tun hat. In der Übermittlung der Informationen muss deren Negativität hervorgehoben werden, um durch sie die Positivität gegenteiliger Ereignisse und Verhaltensweisen darzustellen.

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Angeregte Diskussionen zu den alljährlich stattfindenden Seminaren der Gruppe der 2. Generation

Leider sorgt der natürliche Lauf der Dinge dafür, dass die Zeitzeugen immer weniger werden. Eines der meistdiskutierten Themen der G2G ist die Frage, inwieweit eine Weitergabe von historischen Erlebnissen nun durch Nachkommen eines ehemaligen Deportierten zulässig sei. Selbst wenn es richtig sein mag, dass diese indirekte Art der Geschichtsübermittlung eher wie eine Erzählung eines Horrormärchens wirken könnte, so empfänden dies doch Erzähler und Zuhörer gemeinsam, denn sie waren beide nicht selber anwesend. Gefühle wie Unvorstellbarkeit und Trauer teilen zu können, bringt die Gesprächspartner einander näher. Wenn Nachkommen von ehemaligen Häftlingen die Sensibilisierung der jungen Generation für die Leiden ihrer Vorfahren weiterführen, so nehmen sie die Verantwortung an, die ihre Elterngeneration ihnen vermacht hat und geben sie gleichzeitig an die 3. Generation weiter.

Während der Tage der Begegnung 2012 haben das erste Mal Mitglieder der G2G an den Treffen mit Schülerinnen und Schülern teilgenommen. Sie hatten bei dieser Gelegenheit viele Fragen an sich selbst zu beantworten, zum Beispiel “Wie hat dein Vater erzählt?“, „Was ging dir dabei durch den Kopf?“, „Wie hast du dich ihm gegenüber danach verhalten?”. Dieses Beispiel zeigt, dass es möglich ist, eine Beziehung aufzubauen, die auf Empathie basiert und in der die Jugendlichen das menschliche und psychologische Profil des Gesprächspartners wertschätzen. Somit können die Gegenüber auf gleicher Ebene kommunizieren. Das erleichtert ihnen die Konzentration auf generelle Konzepte und befreit sie von dem Drang der Analyse des zeitlichen Ablaufs der Geschichte. So wird es den Jugendlichen ermöglicht, die Geschichte als Ausgangspunkt für einen Prozess der Bewusstseinswerdung anzunehmen, dem die Gleichheit, der Respekt für das Andere und die allgemeinen Grundrechte des Menschen zugrunde liegen.

Ich denke, dass der wichtigste Beitrag der G2G während der Tage der Begegnung darin besteht, die Rolle des privilegierten Vermittlers zwischen ehemaligen Häftlingen und heutigen Jugendlichen auszuschöpfen, um die konstruktive Geschichtsvermittlung zu stärken. Es ist dabei fundamental, die Weitergabe der Informationen auf eine Art unpersönlich zu halten, die subjektive Interpretationen, einseitige Darstellungen oder schlimmer noch, Geschichtsfälschungen, verhindert.

Wenn man den bedingungslosen Respekt für die zu unterscheidende geschichtliche Wahrheit und erzählerische Wahrheit mit der erwähnten Kontextualisierung der Grundthemen, also den universellen menschlichen Werten addiert, verringert sich das Risiko einer fehlerhaften Handlung.

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Dr. Claudio Burelli im Gespräch mit Jugendlichen 2012

Eine weitere Aufgabe der Beteiligung der G2G an der Organisation der Tage der Begegnung ist der Kontakt mit den deutschen Vertretern aus Politik und Verwaltung. Auch hier hat mit der Zeit eine wichtige Entwicklung stattgefunden. Anfangs unterstützte die Gruppe die ehemaligen Häftlinge dadurch, dass sie wie ein Sprachrohr deren Wünsche und Vorschläge vorantrieb. Heute, nachdem die meisten Väter verstorben sind, ist es Aufgabe der G2G, im Sinne der väterlichen Generation Vorschläge zu entwerfen und an geeigneter Stelle vorzubringen.

Diese Rolle, die sowohl während der Herbsttreffen als auch während der Tage der Begegnung eingenommen wird, stellt eine weitere Verbindung der G2G mit den offiziellen Gedenkfeiern dar, denn es bestehen effektiv diese alle halbe Jahre wiederkehrenden Gelegenheiten, um sich persönlich auszutauschen und in Abhängigkeit voneinander thematische und organisatorische Entscheidungen zu treffen. Dank dieses Rhythmus sind wichtige Ergebnisse erzielt worden, wie zum Beispiel die Herrichtung eines kleinen Teiles des Stollens, um ihn öffentlich zugänglich zu machen; die Umgestaltung der Massengräber; die Verbesserung der dauerhaften Ausstellung; die Planung der Neugestaltung des ehemaligen Lagergeländes. All dies sind Veränderungen, die sowohl die Überlebenden, als auch die G2G befürworten und die auch von der Politik und Verwaltung positiv aufgenommen worden sind.

Bei den Tagen der Begegnung ist mittlerweile das persönliche Engagement der Mitglieder der G2G fester Bestandteil des Programms. Seit einigen Jahren wird einem Vertreter der Gruppe ein Platz im Ablauf der offiziellen Gedenkfeier eingeräumt. Einige Mitglieder bereiten in ihren Heimatländern von ehemaligen Häftlingen geschriebene Gedichte, Lieder oder Instrumentalstücke vor, um sie in offiziellem Rahmen vorzutragen.

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Musikalische Umrahmung einer Gedenkveranstaltung durch den Franzosen Jean-Louis Bertrand

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Der Italiener Ettore Borinato umrahmt eine Gedenkveranstaltung mit Liedern und Gedichten

Zusammenfassend stellt die Existenz und stetige Beteiligung der G2G an der Organisation und Realisierung der Tage der Begegnung eine Garantie für korrekte und konstruktive Geschichtsvermittlung, für Ideenreichtum und die Wahrung des Respekts für die geschichtliche Wahrheit dar. Wir wünschen uns für die Zukunft, dass auch jüngere Menschen sich der Gruppe anschließen, denn zu tun gibt es immer noch viel und auch für die 2. Generation gilt: Die Zeit rennt.

1 Siehe den Beitrag von Monika Rozmyslowicz

2 Siehe den Beitrag von Freek van den Brink

 

 

Ideen für temporäre Aktionen und ihre Umsetzung

Freek van den Brink

Aus dem Niederländischen übersetzt von Freek van den Brink

Freek van den Brink aus den Niederlanden nahm 1991 an ein einem, von den Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten organisierten, workcamp in der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge teil. Seit dieser Zeit ist er der Gedenkarbeit des Ortes verbunden und unterstützt engagiert seit 15 Jahren die Arbeit der Gruppe der 2. Generation nicht nur als Dolmetscher, sondern bringt als inzwischen selbst Lehrender auch immer wieder pädagogische Aspekte ein.

Der Anfang

Seit 2001 entwickelt die Gruppe der 2. Generation Ideen für temporäre Gedenkaktionen, die verschiedene Aspekte der Geschichte des KZ Langenstein-Zwieberge in den Blickpunkt der Öffentlichkeit bringen und auf diese Weise die Vermittlung von historischen Fakten mit Gedenkprojekten verbinden.

Die erste Aktion wurde zu den Tagen der Begegnung 2002 umgesetzt. Für jeden der 1935 namentlich bekannten Todesopfer wurde ein Schild mit Namen und Lebensdaten entlang des “Leidensweges” vom ehemaligen Lagergelände zum Stollen als visuelles Zeichens des Gedenkens aufgestellt. Sowohl an der Herstellung als auch an der Aufstellung der Schilder beteiligten sich Jugendliche und Erwachsene aus der Region. Die Aktion war temporär, d.h. die Schilder stellten keine dauerhafte Erweiterung der Ausstellung der Gedenkstätte oder der Gelände-Infrastruktur dar. 

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Aufstellung der Schilder zu den Tagen der Begegnung 2002 im Beisein ehemaliger Häftlinge

Zu den Erfolgserlebnissen dieser ersten Aktion zählte der visuelle Effekt der Symbolik, der bei Teilnehmern, Gästen und Besuchern auf große Resonanz stieß. So wurde auch das Vertrauen belohnt, das die Verantwortlichen der Gedenkstätte in die Arbeit der Gruppe der 2. Generation setzten.

Für sich selber erkannte die Gruppe, dass es ihr mit der Idee gelungen war, Jugendliche zu motivieren, sich in Gedenkarbeit einzubringen und zu den Tagen der Begegnung Gedenkakzente zu setzen. Die Gruppe der 2. Generation entdeckte damit ihre Wirkung in der Öffentlichkeit.

Die Kommunikation

Die Gruppe der 2. Generation ist international, ihre Kommunikation ist mehrsprachig und erfordert zeitaufwendige Übersetzungen. Andererseits sind es gerade die Multikulturalität und Mehrsprachigkeit der Gruppe, die hilfreich sind bei den Aktionen unter Einbeziehung der verschiedenen Ideen und Interessen. Da sich die unterschiedlichen Sprachen oftmals als organisatorische Hürde erweisen, fungieren die Gedenkstätte und deren Förderverein als Koordinations- und Organisationszentrum. Mehrsprachige Gruppenmitglieder sind multifunktional tätig – als Übersetzer, Vermittler, Organisatoren und Koordinatoren.

Die Ideenfindung

Der Prozess der Ideenfindung für temporäre Gedenkaktionen zu den Tagen der Begegnung ist ganz bestimmten Kriterien unterworfen. Zunächst einmal muss die Gedenkaktion den eigenen Ansprüchen genügen, d.h. die Gruppenmitglieder wollen vor dem eigenen Vater als Hüter dessen Erbes bestehen. Entscheidend für die Umsetzung der Aktion sind auch Alter und Gesundheitszustand der Überlebenden, die zu den Tagen der Begegnung erwartet werden. Außerdem soll die Aktion realisierbar sein, d.h. der erforderliche Organisationsaufwand, die entstehenden Kosten sowie die zu erwartenden Wetterverhältnisse werden bei den Überlegungen berücksichtigt. Ein ganz wesentliches Kriterium für die konkrete Umsetzung ist dann das Einbeziehen von Jugendlichen aus dem Ort bzw. aus der Region. Die Gedenkaktion selbst, die durch international wechselnde Redebeiträge von Gruppenmitgliedern am Aktionstag erklärt wird, soll gegebenenfalls verantwortliche Politiker und Öffentlichkeit zu Veränderungen auffordern (z.B. die Einbeziehung eines Stollenteils in die Arbeit der Gedenkstätte oder die Bestandssicherung von Sachzeugen auf dem Lagergelände).

Die zunehmende Bedeutung der Pädagogik

Die Gruppe der 2. Generation wird durch die Direktion der Stiftung GedenkstättenSachsen-Anhalt und das zuständige Ministerium des Landes Sachsen-Anhalt mittlerweile als Partner anerkannt und in offizielle Gedenkveranstaltungen einbezogen. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf die Umsetzung der Aktionsideen, denn nun werden die pädagogischen Aspekte der Aktion zunehmend wichtiger als deren Wirkung auf verantwortliche Politiker.

Diesen pädagogischen Aspekten liegt die Überlegung zugrunde, ALLE Jugendlichen anzusprechen, z. B. auch behinderte Schüler (Inklusion), den Jugendlichen mit der Aktionsidee zugleich Raum für eigene Gestaltung zu geben (Partizipation) und ihnen bewusst zu machen, dass sie an einer internationalen Aktion teilnehmen. Letztendlich soll die Aktion den Jugendlichen zeigen, dass sie etwas bewegen können (Empowerment).

Für die Umsetzung einer Idee ist dann die Themenvorgabe durch die Gruppe der 2. Generation UND die Eigeninitiative der beteiligten Jugendlichen entscheidend. Die Themenwahl der Gruppe der 2. Generation bietet eine gewisse Struktur, die die jugendlichen Teilnehmer übernehmen können. Das Zugestehen des Raumes für eigene Gestaltung hingegen fördert ihre Eigeninitiative und setzt dadurch Kreativität frei. Als Mediatoren zwischen den Jugendlichen und der Gruppe der 2. Generation fungieren die begleitenden Lehrkräfte, Gedenkstättenmitarbeiter und Fördervereinsmitglieder. Eine direkte Kommunikation zwischen Jugendlichen, Mitgliedern der Gruppe der 2. Generation und auch Überlebenden, wenn diese an den Tagen der Begegnung teilnehmen können, folgt dann am Aktionstag selbst.

Schwierigkeiten bei der Umsetzung

Während der Gedenkaktion 2006 wurden am südlichen Massengrab auf dem ehemaligen Lagergelände durch Mitglieder der Gruppe der 2. Generation die 152 bekannten Namen der letzten Todesopfer des KZ Langenstein-Zwieberge verlesen. Letztere waren kurz vor, während und nach dem Eintreffen der amerikanischen Streitkräfte, die das Lager am 11. April 1945 befreiten, gestorben. 152 Rosen wurden niedergelegt und die Aktion wurde durch Trommelklänge musikalisch eingerahmt. Gegenstand der Ansprache der Vertreterin der Gruppe der 2. Generation war ein Mahnen gegen einfache rechte Parolen in einer komplexer Welt und der Auftrag, die Geschichte des KZ Langenstein-Zwieberge immer wieder neu  zu erzählen.

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Mitglieder der Gruppe der 2. Generation verlesen die Namen der letzten Todesopfer

Verbesserungsfähig an dieser Aktion war die Tatsache, dass keine Beteiligung von Schülern stattgefunden hatte und die Aktion an sich kaum einen Bezug zur aktuellen Situation herzustellen vermochte. Da im Vorfeld die Verantwortung für die Organisation innerhalb der Gruppe der 2. Generation nicht eindeutig geklärt wurde, mussten die Gedenkstättenmitarbeiter so manches regeln und ermöglichen. Dennoch war die Aktion dann offenbar doch so eindrucksvoll, dass am Ende ein Regierungsvertreter spontan darum bat, allen Beteiligten seinen Dank und Anerkennung auszusprechen.

Beispiele gelungener Aktionen

Die Aktion 2003 symbolisierte auf dem ehemaligen Appellplatz des Lagers, wie viele Menschen zum gleichen Zeitpunkt im KZ Langenstein-Zwieberge inhaftiert waren. Mit 5.160 Menschen aus 22 Ländern und den Staatenlosen war am 18. Februar 1945 die höchste Anzahl von Gefangenen im KZ Langenstein-Zwieberge erreicht.

In diesem Jahr wurden deshalb bis zu den Tagen der Begegnung 5.160 weiße Bänder beschrieben mit dem Satz „Dies ist ein Mensch“, formuliert in Anlehnung an den gleichlautenden Titel eines Gedichtes des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi. Nachdem der Satz in 33 verschiedene Sprachen übersetzt worden war, schrieben ihn Vertreter verschiedener Generationen aus ganz Sachsen-Anhalt auf die Stoffbänder, befestigten diese an Holzstäben und stellten die Stäbe auf dem ehemaligen Appellplatz auf.

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Mitglieder der Gruppe der 2. Generation nach dem Aufstellen der Stäbe

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Tage der Begegnung 2003

Die visuelle Wirkung der Stäbe war außerordentlich groß. Die Zusammenarbeit vieler Akteure machte die Aktion so beeindruckend und gab den beteiligten Jugendlichen das Signal, dass Engagement etwas bewirken kann. Auch diese Aktion hatte einen temporären Charakter – leider, denn noch lange nach dem Abbau fragten Besucher der Gedenkstätte nach den Stäben.

Eine ebenfalls gelungene Gedenkaktion wurde zu den Tagen der Begegnung 2007 umgesetzt. Schüler hatten im Vorfeld authentisches Material, d.h. Sandsteine aus dem Stollen, mit Namen und Lebensdaten der Todesopfer beschrieben, die in den sechs Massengräbern ruhen. Diese Aktion war nicht die erste, an der sich auch hörgeschädigte Schüler beteiligten (aktive Inklusion).

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Schüler beschriften Sandsteine mit Namen und Lebensdaten der Opfer

Während der Tage der Begegnung 2007 legten Mitglieder der Gruppe der 2. Generation und einige Schülern die Steine dann an den Massengräbern nieder. Durch ihr Handeln wollte die Gruppe Druck auf die Landesregierung ausüben, um den Prozess der Umgestaltung des Mahnmals zu beschleunigen und gleichzeitig zu zeigen, dass sie nicht nur fordern, sondern auch mit anpacken kann. Auch bei dieser Aktion war die visuelle Wirkung nachhaltig. Der temporäre Charakter erhielt 2011 seinen Abschluss mit der Umgestaltung der Grabanlage.

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Schüler und Mitglieder der Gruppe der 2. Generation legen die beschrifteten Steine an den Massengräbern nieder

Zu den gelungenen Aktionen zählt auch die Gedenkaktion zu den Tagen der Begegnung 2010. Überlebende, deren Angehörige und alle Gäste vollzogen symbolisch den Marsch der Häftlinge vom Bahnhof Langenstein bis zum ehemaligen Lagergelände. Der Gang durch das Dorf fokussierte auf die Anwohner von Langenstein, die damals Zeugen der Verbrechen waren. An verschiedenen Stationen lasen Schüler aus Texten von Überlebenden. Schilder mit diesen Texten hatten die Schüler bereits im Vorfeld im Ort Langenstein aufgestellt und stilisierte Vergißmeinnichtblüten als Symbol des Gedenkens an die Langensteiner Bürger verteilt mit der Bitte, sie in ihren Fenstern zu zeigen. Seit dieser Aktion ist die Vergissmeinnichtblüte das Logo der Gruppe der 2. Generation

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Begrüßung der Überlebenden und Teilnehmer des Marsches durch Langensteiner Schüler.

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Der Marsch durch das Dorf

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Schüler lesen aus Texten von Überlebenden

Neu an dieser Aktion war, dass sich eine schulformübergreifende feste Gruppe von Jugendlichen zusammengefunden und ein halbes Jahr gemeinsam unter Anleitung von Pädagogen und Gedenkstättenmitarbeitern an der Umsetzung der Aktionsidee gearbeitet hatte. Darüber hinaus griffen weitere Jugendliche aus den beteiligten Schulen nach den Tagen der Begegnung das Projekt auf, reflektierten seine Bedeutung für die Gegenwart und erstellten dazu eine Internetseite, mit der sie einen Preis des bundesweiten Geschichtswettbewerbs “DenkT@g 2010″ der Konrad-Adenauer-Stiftung gewannen.


Die Gedenkaktion 2012 setzte die erfolgreiche Reihe fort. Die
Gruppe der 2. Generation hatte das Thema “Brot-Baracke-Mensch” gewählt und es den beteiligten Schülern zur freien Gestaltung überlassen. Auch bei dieser Aktion hatte sich eine schulform- und klassenübergreifende Gruppe von Jugendlichen ein halbes Jahr lang mit dem Thema befasst, sich mit der Geschichte des KZ Langenstein-Zwieberge auseinandergesetzt und Fragen erarbeitet, die sie aus heutiger Sicht den Häftlingen gestellt hätten. Antworten auf ihre Fragen konnten die Jugendlichen in den Texten von Überlebenden finden. Zu jeder Frage und Antwort gestalteten die Projektteilnehmer später eine farbliche Darstellung auf einem Puzzleteil und gaben so ihren Empfindungen eine bildhafte Form. Für das Puzzle war vorab eine Holztafel in Einzelteile zerschnitten worden. Während der Gedenkaktion wurden diese Teilstücke, diese “Bruchstücke des Erinnerns”, nach dem Verlesen der Fragen und Antworten wieder zu einem Gesamtbild zusammengesetzt. Vertreter der Gruppe der 2. Generation beteiligten sich ebenfalls, indem auch sie jeweils ein Puzzleteil einfügten und ihre Gedanken dazu erklärten. Bei dieser Aktion übernahmen Lehrerinnen und Gedenkstättenmitarbeiter wiederum eine wichtige Mediationsrolle.

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Die “Bruchstücke der Erinnerung” werden zusammengesetzt

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Mitglieder der Gruppe der 2. Generation und Projektteilnehmer kommen mit Besuchern der Aktion ins Gespräch

Gedenkaktionen in der Zukunft

Gegenwärtig erleben wir den Prozess, dass angesichts ihres hohen Alters künftig kaum noch Überlebende des Lagers zu den Tagen der Begegnung kommen können. So gesehen hat die Gruppe der 2. Generation das Erbe der ehemaligen Häftlinge angetreten, denn sie gestaltet die Gedenkveranstaltungen bereits maßgeblich mit. Eine weitere Übertragung dieses Erbes auf die Dritte Generation ist allerdings nicht selbstverständlich, da dort der unmittelbare Bezug zum Leidensweg des Familienmitglieds schwächer ist. Somit ist die Gruppe der 2. Generation aktuell Motor für temporäre Aktionen, langfristig jedoch zugleich ein Auslaufmodell. Einiges spricht daher in Zukunft für eine zentrale Rolle des Fördervereins bei der Organisation von temporären Aktionen, zumal Mitglieder der Gruppe der Zweiten Generation häufig bereits Mitglieder des Fördervereins sind.

Ideen für Gedenkaktionen in Zukunft

Künftig wird es notwendig sein, die Ideen für Gedenkaktionen in einen erweiterten Kontext einzubinden, sie beispielsweise mit den universellen Menschenrechten in Verbindung zu bringen. Auch Aktionen außerhalb der Gedenkstätte, z.B. auf der Route des Todesmarsches, sind denkbar. Und “kleine Geschichten von mutigen Menschen im großen Krieg”, wie z.B. die Flucht zweier Häftlinge in das Dorf Börnecke und deren Rettung durch Dorfbewohner, können ebenfalls die Grundlage einer kreativen Auseinandersetzung von Jugendlichen mit dem Thema bilden.

Jedenfalls hat sich bei den bisherigen Aktionen gezeigt, dass für den politischen Bildungserfolg die pädagogischen Überlegungen im Vorfeld entscheidend waren. Das wird auch unsere Ausrichtung für die Zukunft sein.

 

 

 

Das Interview-Projekt der Gruppe der 2. Generation

Monika Rozmyslowicz

Aus dem Polnischen übersetzt von Ewa Kozlowska-Voigt

Monika Rozmyslowicz aus Polen ist die Enkelin des Häftlings Stanislaw Kolodziejczyk, der am 11. April 1945 , dem Tag der Befreiung, im KZ Langenstein-Zwieberge starb. Sie arbeitet seit nunmehr 15 Jahren sehr aktiv in der Gruppe der 2. Generation und hat gemeinsam mit ihrer Nichte Ania mehrere Interviews mit polnischen Überlebenden geführt und verschriftlicht.

Eine der wichtigsten Aktivitäten unserer Gruppe besteht darin, die Erinnerungen der ehemaligen Häftlinge festzuhalten und zu bewahren. Die Gespräche mit den Überlebenden, die im Lager unvorstellbares Leid erfahren haben, sind die wertvollste Informationsquelle für uns und für die nächsten Generationen.

Die meisten Mitglieder der Gruppe der 2. Generation sind Nachkommen ehemaliger Häftlinge. Es ist uns bewusst geworden, dass wir die Verantwortung haben, „mit unseren Vätern und Großvätern in Kontakt zu treten”. Wir sind diejenigen, die ihnen helfen können und müssen, sich zu öffnen und den Weg der Erinnerungen an die tragische Vergangenheit einzuschlagen.

In unseren Ländern haben wir über viele Stunden hinweg Gespräche mit den Überlebenden über ihre Erlebnisse geführt und diese auf Video aufgezeichnet. Das hat einen großen Vorteil gegenüber dem niedergeschriebenen Text. Neben dem historischen Inhalt wird der Zeitzeuge selbst verewigt, samt seinen Emotionen, die durch die Erinnerungen an die tragischen Erlebnisse lebendig werden. Die Videoaufzeichnung registriert auch Gefühle, über die in Biographien geschwiegen wird. Nicht jeder alte Mensch kann sich schriftlich äußern. Ein ruhiges Gespräch dagegen mit einer vertrauten Person schafft die Voraussetzung für viel freiere Äußerungen. Aus diesem Grund eben ist es wichtig, dass die Überlebenden durch uns – ihre Kinder, Enkel und Urenkel – interviewt werden. Dann entsteht eine gewisse Atmosphäre der Vertrautheit, die dazu führt, dass sie sich vor uns öffnen und über ihre Erlebnisse berichten.

Besonders bewegend sind die Schilderungen von gegenseitiger Hilfe oder menschlicher Behandlung, was selten war im grauenhaften Lageralltag. Unsere Gespräche verliefen in einer Atmosphäre der Konzentration und Betroffenheit. Alles, was wir dabei erfahren haben, macht uns immer noch Angst und stimmt uns zugleich nachdenklich. Was für ein Schicksal kann ein Mensch einem Anderen bereiten?

Trotzdem machen wir die Interviews, denn sie sind eine wertvolle Informationsquelle über das KZ Langenstein-Zwieberge und über andere Lager, in denen unsere Gesprächspartner gefangen waren. Sie liefern uns Details, die weit hinaus gehen über die Zahlen und Fakten, die in den verschiedenen Dokumentationen zu finden sind. Wir können dadurch auch die Erinnerungen der Häftlinge vergleichen und gegenseitig die Angaben bestätigen, denn viele der Überlebenden beschreiben die Lebens- und Arbeitsbedingungen oder Vorfälle im Lager in ähnlicher Weise. Trotz dieser Vergleichbarkeit beschreiben die Interviews den seelischen Zustand und das erfahrene Leid jedes Einzelnen. Sie zeigen, dass jeder Mensch eine Identität hat, derer er im Lager beraubt und die durch eine Nummer ersetzt wurde.

Die Interviews sind ein sehr „lebendiges” pädagogisches Material. Der Appell geht an die Gefühle des Zuschauers, während dieser Körpersprache und Emotionen des Erzählenden beobachtet und die beim Erzählen herrschende Atmosphäre wahrnimmt. Durch das Zeigen des menschlichen Leidens „von innen“ lehren die Interviews Respekt gegenüber anderen Menschen.

Das Videomaterial ist nicht nur ein Beweis für nationalsozialistische Verbrechen. Viel mehr ist es ein Studium des menschlichen Verhaltens in Situationen, die durch extreme Erschöpfung, Entwürdigung und Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet sind. Die Interviews zeigen auch, wie die Überlebenden mit dieser Belastung im Leben klar kommen und welche Werte im Leben für sie am wichtigsten sind.

Die Grundidee, die die Gruppe der Zweiten Generation mit dieser Arbeit verfolgt, ist die Vermittlung persönlicher Erinnerungen der ehemaligen Häftlinge an die nächsten Generationen. Sie sollen eine entsprechende Lehre aus der Geschichte ziehen. Die Interviews sollen eine Warnung für die Zukunft sein, und vor allem sollen sie die Generationen für das menschliche Leid hier und heute sensibilisieren.

Die Ergebnisse unserer Arbeit sollen der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, sowohl den Besuchern der Gedenkstätte als auch der Schuljugend und allen, die sich für die Thematik der Menschenvernichtung durch Sklavenarbeit, Hunger und bestialische Behandlung interessieren. Das von uns gesammelte Material kann und soll sogar in der Forschungsarbeit von Historikern, Soziologen und Psychologen genutzt werden.

Um dies gut vorzubereiten, werden die Gespräche nach einheitlichen Schritten vorbereitet, durchgeführt und bearbeitet. Zunächst treffen wir uns mit dem ehemaligen Häftling zur Kontaktaufnahme und für einen langsamen Einstieg in die Thematik. Dann wird das Interview geführt und auf Video festgehalten. Dazu kommen Videoaufnahmen vom Lagergelände. Wenn das Material vorhanden ist, wird es geschnitten und montiert. Wir haben uns entschlossen, die Interviews mit einzelnen Überlebenden in bestimmte thematische Gruppen zu teilen, damit man das Material in der Gedenkstätte besser präsentieren kann. Ich möchte nur die wichtigsten aufzählen: das Leben vor der Inhaftierung und die Haftgründe, die Ankunft im Lager Langenstein-Zwieberge, der Alltag im Lager, Verpflegung und Hunger, die hygienischen Bedingungen und Krankheiten, die Arbeit im und außerhalb des Stollens, der psychische Zustand der Häftlinge, Todesmarsch und Befreiung, das Leben nach der Rückkehr nach Hause und die Botschaft für die nächsten Generationen. Die Texte müssen transkribiert und in die deutsche Sprache übersetzt werden. Den nächsten Schritt bilden die technischen Arbeiten: das Digitalisieren der Aufnahmen und das Untertiteln der Aufzeichnungen. Erst dann ist es abschließend möglich, die wichtigsten Szenen für eine Präsentation in der Gedenkstätte zusammenzustellen.

Da die Mitglieder der Gruppe der Zweiten Generation keine Profis sind, ist es klar, dass sie bei der Realisierung des Projekts mit verschiedenen Problemen zu kämpfen haben, vor allem mit der technischen Ausstattung. Wir benutzen bei den Aufnahmen unsere privaten Kameras und Mikrofone, digitalisieren selbst und arbeiten auch bei Schnitt, Montage und Formatierung mit privaten Computern. Dazu kommen umfangreiche Transkriptions- und Übersetzungsarbeiten, die wir meist selbst übernehmen. Unsere deutschen Freunde helfen uns dabei, indem sie zum Beispiel die Untertitelung der Videos in ihren eigenen Filmstudios übernehmen.

Obwohl wir mit der Arbeit an den Interviews mit den Überlebenden schon vor ein paar Jahren angefangen haben, können sie noch nicht für pädagogische Zwecke genutzt werden, weil der größte Teil noch nicht bearbeitet worden ist. Zu manchen Interviews fehlen Transkription und Übersetzung. Andere müssen noch geschnitten und untertitelt werden. Trotzdem hoffen wir, dass unsere Bemühungen irgendwann dahin führen, dass die von der Gruppe der 2. Generation begonnene Arbeit mit der Unterstützung der Freunde der Gedenkstätte und des Fördervereins zu einem guten Ende gebracht werden kann..
 


Die Bedeutung der Gruppe der 2. Generation für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen

Hanka Rosenkranz

Hanka Rosenkranz ist Lehrerin für Geschichte,Geografie und Sozialkunde an der Hagenberg-Sekundarschule in Gernrode. Seit 2009 ist sie für einen Tag wöchentlich als Gedenkstättenpädagogin in die Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge abgeordnet und seit 2010 leitet sie den Förderverein der Gedenkstätte als Vorsitzende. Ihrem unermüdlichen Engagement sind zahlreiche erfolgreiche gedenkstättenpädagogische Projekte zu verdanken.

Zeitzeugengespräche mit Überlebenden eines Konzentrationslagers sind in der politischen Bildungsarbeit eine sehr wertvolle Informationsquelle für Schüler und Jugendliche jeden Alters. Die Informationen und Erzählungen zum Leben während der NS–Zeit und besonders während der Haft im Konzentrationslager hinterlassen mit ihrer Authentizität Spuren bei den Jugendlichen, auch wenn denen bewusst ist, dass jede Erinnerung nur ein subjektives Bild der Geschichte wiedergibt. Die unmittelbare Begegnung berührt die Schüler und lässt Empathie entstehen. Oft führen diese bei Schülern zu einer nachhaltigen Bereitschaft, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen, einen Bezug zur eigenen Lebenswelt herzustellen und bestenfalls sich selbst aktiv für demokratische Werte und Normen zu engagieren.

Mittlerweile können infolge ihres hohen Alters leider kaum noch Überlebende zu Zeitzeugengesprächen anreisen. So haben ihre Kinder und Enkel die Aufgabe übernommen, mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Sie können und sollen als 2. oder manchmal schon 3. Generation natürlich kein Ersatz für ihre Väter sein, sondern haben über die Jahre eine ganz eigene Funktion erhalten. Sie ist mir erst bewusst geworden durch meine Teilnahme an Gesprächen zwischen Jugendlichen und Vertretern der 2. Generation. Natürlich erzählen auch die Kinder und Enkel über das Erleben ihrer Väter und Großväter, aber in einer anderen Form, denn sie bringen ihre eigene Auseinandersetzung mit der Geschichte und die Verarbeitung innerhalb der jeweiligen Familie mit ein.

Für Jugendliche ist die Sicht der 2. Generation sehr interessant. Bei Gesprächen mit Überlebenden fragen sie meist sehr vorsichtig und zurückhalten aus Angst, diese zu verletzen. Im Umgang mit der 2. Generation sind sie hingegen oft sehr viel unbefangener in der Fragestellung. Hier stehen im Mittelpunkt der Gespräche beispielsweise Fragen wie:

  • Wann haben Sie davon erfahren, dass ihr Vater im KZ war?

  • Was hat er Ihnen erzählt? Hat er über alles erzählen können?

  • Was haben Sie empfunden, als Sie von den schrecklichen Erfahrungen ihres Vaters gehört haben?

  • Hatte das Schicksal Ihres Vaters Einflüsse auf Ihre eigene Kindheit und das Zusammenleben in der Familie?

  • Warum wollten Sie den Ort, wo Ihr Vater gefangen war, sehen?

  • Fällt es Ihnen schwer, über Ihren Vater zu sprechen?

Die Antworten auf diese Fragen machen den Jugendlichen bewusst, dass die Zeit nach der Gefangenschaft in den Familien der Überlebenden oft nicht einfach war. Die Zeit des Nationalsozialismus hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Generation der Kinder, die Überlebenden mussten nach dem Krieg ohne psychologische Hilfe mit ihrem Trauma fertig werden, schwiegen oft sehr lange und wenn sie sprachen, wollten sie meist von der Nachkriegsgesellschaft nicht gehört werden. Diese Folgen von Terror und Gewalt sind den Jugendlichen in der Regel zuvor nicht bekannt und demzufolge auch nicht bewusst.

Die 2. Generation erhält so eine ganz eigene Bedeutung und wird mit ihren Erfahrungen und Perspektiven zum Vermittler zwischen den Generationen, denn die meisten von ihnen sind ebenfalls nach dem Krieg geboren. Bei der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit geht es deshalb nicht um Schuldzuweisungen oder moralische Vorhaltungen, sondern die Nachkommen führen vielmehr den – zumindest von den Überlebenden – Versöhnungsgedanken ihrer Väter weiter. Im Vordergrund stehen das WIR und die Frage, was wir GEMEINSAM tun können, um an das Leid der Väter zu erinnern, ihrer zu gedenken und gegen Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart vorzugehen. Außerdem bietet die Internationalität der 2. Generation die Möglichkeit, auch darüber ins Gespräch zu kommen, welche Rolle der Nationalsozialismus in der Geschichtsvermittlung anderer Länder spielt. Der Aufruf, sich für demokratische Ideen und Strukturen im eigenen Lebensumfeld stark zu machen, bekommt somit ein individuelles Gesicht.

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Vertreter der 2. und 3. Generation im Gespräch mit Jugendlichen zu den Tagen der Begegnung 2012

Eine zweite Ebene bildet die aktive Beteiligung der 2. Generation an den Gedenkveranstaltungen unter Beteiligung von Jugendlichen aus der Region. Alljährlich im Oktober werden die Vorbereitung der Tage der Begegnung im April jeden Jahres besprochen und ganz speziell die thematische Ideenfindung für eine temporäre Aktion, die dann von Schülern umgesetzt wird. Dass der inhaltliche Rahmen dieser Aktion von der Gruppe der 2. Generation vorgeschlagen wird, hat nichts mit Bevormundung zu tun. Die Jugendlichen aller Schulformen empfinden dies vielmehr als Auftrag, der sie anspornt, kreative Ideen für die Umsetzung zu entwickeln. Es ist für die Jugendlichen auch ganz wichtig, im April zu den Tagen der Begegnung mit den Teilnehmern aus der 2. Generation ins Gespräch zu kommen. Weil die internationale Zusammensetzung der Gruppe der 2. Generation und die räumliche Entfernung eine permanente Zusammenarbeit für diese Aktionen unmöglich machen, begleitet der Förderverein deren Vorbereitung und organisiert auch die Tage der Begegnung mit.

Der Gruppe der 2. Generation kommt also bei der Bildungsarbeit in der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge eine sehr große Bedeutung zu. Die Form, in der diese Arbeit mit und für die Gedenkstätte praktiziert wird, ist bundesweit einzigartig und hat eine besonders nachhaltige Wirkung im geografischen Raum und in der politischen Aufklärungsarbeit.

Da mit dem Engagement der Gruppe der 2. Generation natürlich auch Kosten verbunden sind (Reise-, Aufenthalts- und Übersetzungskosten), gilt es mit allen entsprechenden politischen Gremien und Institutionen in Deutschland gemeinsam zu überlegen,  wie diese Form der Bildungsarbeit zukünftig finanziert werden kann. Sicher ist dazu auch ein Umdenken und eine Überarbeitung diesbezüglicher Richtlinien zugunsten einer Förderung der 2.Generation notwendig, denn sowohl die Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt als auch die Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge und deren Förderverein sind sich einig, dass der Staffelstab für die wichtige Gedenkarbeit im Sinne der Überlebenden und der damit verbundene politischen Auftrag an die 2. Generation übergeben werden muss.